Urteil vom 24.03.2025 -
BVerwG 1 C 15.23ECLI:DE:BVerwG:2025:240325U1C15.23.0
Generalpräventive Ausweisung bei bestehendem Abschiebungsverbot, nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot, isolierte Titelerteilungssperre, Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG bei bestehendem Ausweisungsinteresse
Leitsätze:
1. Ein Ausländer, der wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots auf absehbare Zeit nicht abgeschoben werden kann, kann auch aus rein generalpräventiven Gründen ausgewiesen werden.
2. In die Interessenabwägung bei einer Ausweisung sind Bleibeinteressen auch dann mit unvermindertem Gewicht einzustellen, wenn die Abschiebung des Ausländers wegen eines Abschiebungsverbots auf absehbare Zeit nicht vollzogen werden kann.
3. Unter Geltung der Richtlinie 2008/115/EG gibt es keinen Raum für ein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot ohne Rückkehrentscheidung.
4. Einreise- und Aufenthaltsverbote, die vor Inkrafttreten des mit dem Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54) ausgeübten Opt-outs ergangen sind, unterfallen der Richtlinie 2008/115/EG.
5. § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bietet für eine Titelerteilungssperre ohne Einreise- und Aufenthaltsverbot keine Rechtsgrundlage.
6. Das Vorliegen des Ausschlussgrundes des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG schließt einen Ermessensanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht aus.
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Rechtsquellen
AufenthG §§ 11, 25 Abs. 3 und 5, § 53 RL 2008/115/EG Art. 2 Abs. 2 Buchst. b, Art. 3 Nr. 6, Art. 11 -
Instanzenzug
VG Bremen - 14.04.2023 - AZ: 2 K 1366/21
OVG Bremen - 30.08.2023 - AZ: 2 LC 116/23
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Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 24.03.2025 - 1 C 15.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:240325U1C15.23.0]
Urteil
BVerwG 1 C 15.23
- VG Bremen - 14.04.2023 - AZ: 2 K 1366/21
- OVG Bremen - 30.08.2023 - AZ: 2 LC 116/23
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. März 2025
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und Böhmann und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl
für Recht erkannt:
- Die Revisionen des Klägers und der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 30. August 2023 werden zurückgewiesen.
- Die Kosten des Revisionsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
Gründe
I
1 Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung und eines Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
2 Der im Mai 1996 geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger. Er reiste im Januar 2016 in das Bundesgebiet ein. Auf seinen am 30. Juni 2016 gestellten Asylantrag erkannte ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 7. März 2017 den Flüchtlingsstatus zu.
3 Am 3. Januar 2019 wurde der Kläger am Flughafen H. wegen des Besitzes von 8 kg Opium, welches er in einem Koffer einführen wollte, festgenommen. Zuletzt mit Urteil des Landgerichts H. vom 17. September 2019 wurde er wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Am 1. Dezember 2020 wurde er aus der Haft entlassen.
4 Mit rechtskräftigem Bescheid vom 23. Juni 2020 widerrief das Bundesamt die dem Kläger zuerkannte Flüchtlingseigenschaft, erkannte ihm den subsidiären Schutz nicht zu und stellte in seiner Person das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG fest.
5 Mit Bescheid vom 2. Juli 2021 wies die Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet aus (Ziffer 1), ordnete gegen ihn ein auf drei Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an (Ziffer 2) und lehnte seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (Ziffer 3). Es sei hinreichend wahrscheinlich, dass es durch seine Anwesenheit im Bundesgebiet zu einem weiteren Schaden an schützenswerten Rechtsgütern, insbesondere zu gravierenden Betäubungsmitteldelikten kommen werde. Unabhängig von einer Wiederholungsgefahr sei die Ausweisung des Klägers auch aus Gründen der Generalprävention gerechtfertigt und verhältnismäßig. Es sei ein hohes generalpräventives Ausweisungsinteresse gegeben. Bei der Abwägung des öffentlichen Interesses an der Ausreise des Klägers mit seinem Interesse am weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiege das öffentliche Interesse. Eine Abschiebung drohe dem Kläger auf absehbare Zeit nicht. Eine (vorübergehende) Rückkehr und (Re-)Integration in die iranischen Lebensverhältnisse seien ihm aber zumutbar. Gegen einen ausgewiesenen Ausländer sei ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anzuordnen. Aufgrund der Sperrwirkung der Ausweisung sei der Antrag auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis abzulehnen. Nach § 25 Abs. 2 AufenthG komme die Erteilung eines Aufenthaltstitels an den Kläger aufgrund des Bescheides des Bundesamtes vom 23. Juni 2020 auch unabhängig von der Ausweisung nicht in Betracht. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG sei nach Satz 3 Nr. 2 dieser Vorschrift ausgeschlossen.
6 Mit Ergänzungsverfügung vom 20. Oktober 2022 drohte die Beklagte dem Kläger die Abschiebung in einen Staat mit Ausnahme des Iran an, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Übernahme verpflichtet sei. Die Abschiebungsandrohung sei unionsrechtlich zur Aufrechterhaltung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erforderlich.
7 Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 2 und 3 des Bescheides vom 2. Juli 2021 sowie der Ergänzungsverfügung vom 20. Oktober 2022 verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
8 Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und auf die Berufung der Beklagten das verwaltungsgerichtliche Urteil dahingehend neu gefasst, dass die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Bescheides verpflichtet wird, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts neu zu entscheiden; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Berufung des Klägers sei unbegründet. Die Ausweisung sei jedenfalls aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Die daran zu stellenden Verhältnismäßigkeitsanforderungen seien mit Blick auf die abgeurteilte Straftat, die Person und die Lebensumstände des Klägers erfüllt. Eine generalpräventive Ausweisung diene dazu, anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass bestimmte Straftaten zur Ausweisung führen könnten. Bereits die Gefahr der Verschlechterung des Aufenthaltsstatus könne abschreckend wirken. Es sei unschädlich, dass der Kläger auf absehbare Zeit nicht abgeschoben werden könne, da die Ausweisung inlandsbezogen habe ergehen dürfen. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob bei der Ausweisung von Personen mit einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in die Interessenabwägung eine hypothetische Rückkehr unter der Prämisse, dass das Abschiebungsverbot nicht (mehr) bestehe, einzustellen sei, wofür die grundsätzlich auf die Beendigung des Aufenthalts gerichtete Zielrichtung von Ausweisungen und der Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG sprechen könnten, oder ob lediglich das Interesse, die Folgewirkungen der Ausweisung auf den Aufenthaltsstatus in Deutschland abzuwenden, zu berücksichtigen sei. In beiden Varianten überwiege vorliegend das generalpräventive Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers. Im Übrigen sei die rechtliche Beurteilung der Ausweisung unabhängig von der Abschiebungsandrohung und von dem Einreise- und Aufenthaltsverbot. Die Berufung der Beklagten sei unbegründet, soweit sie sich gegen die Aufhebung der ohne konkrete Zielstaatsbezeichnung erlassenen Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots richte. Letzteres sei mangels einer Abschiebungsandrohung (als Rückkehrentscheidung) unionsrechtswidrig und könne nicht allein auf nationaler Grundlage aufrechterhalten bleiben. Unbeschadet der Frage, ob ein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot unionsrechtskonform wäre, biete § 11 AufenthG dafür keine hinreichende Rechtsgrundlage, weil die Norm allein der Umsetzung der Richtlinie 2008/115/EG diene. Der angefochtene Bescheid könne insoweit auch nicht dahingehend ausgelegt werden, dass er neben dem Einreise- und Aufenthaltsverbot eine davon unabhängige Titelerteilungssperre enthalte. Da § 11 AufenthG schon kein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot trage, könne darauf auch keine rein nationale Titelerteilungssperre gestützt werden. Die Berufung der Beklagten sei allerdings teilweise begründet, soweit sie sich gegen die Verpflichtung richte, dem Kläger nach § 25 Abs. 3 AufenthG einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Darauf habe er keinen Anspruch, weil die von ihm begangene Tat trotz einiger zu seinen Gunsten sprechender Umstände den zwingenden Ausschlussgrund der Begehung einer Straftat von erheblicher Bedeutung erfülle. Der Kläger habe aber einen Anspruch darauf, dass die Beklagte über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts entscheide.
9 Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor, eine inlandsbezogene Ausweisung führe zu einem mit der Richtlinie 2008/115/EG unvereinbaren Zwischenstatus, bei dem sich ein Drittstaatsangehöriger ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates befinde und gegebenenfalls einem Einreiseverbot unterliege, obwohl gegen ihn keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr bestehe. Auch nach dem neuen Ausweisungsrecht sei eine generalpräventive Ausweisung vom Gesetz nicht gedeckt und damit unverhältnismäßig und verfassungswidrig. Bezüglich der Rechtswidrigkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots und einer isolierten nationalrechtlichen Titelerteilungssperre verteidigt der Kläger die Entscheidung des Berufungsgerichts.
10 Die Beklagte tritt der Revision des Klägers entgegen und macht zur Begründung ihrer Revision geltend, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das nur die Erteilung eines Aufenthaltstitels verhindern solle, unterfalle nicht dem Anwendungsbereich des Unionsrechts und könne auf rein nationalrechtlicher Grundlage erlassen werden. § 11 AufenthG biete eine die Titelerteilungssperre umfassende Rechtsgrundlage. Deren Anordnung sei rechtlich erforderlich und die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis damit nicht zu beanstanden.
II
11 Die zulässigen Revisionen des Klägers und der Beklagten sind unbegründet. Im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) hat das Berufungsgericht die Ausweisung des Klägers für rechtmäßig erachtet (1.), das Einreise- und Aufenthaltsverbot hingegen aufgehoben (2.) und die Beklagte zur Neubescheidung des Antrages des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet (3.).
12 1. Ohne Verstoß gegen Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht die Ausweisung des Klägers als rechtmäßig angesehen. Sie konnte aus rein generalpräventiven Erwägungen erfolgen, auch wenn der Kläger wegen eines festgestellten Abschiebungsverbots auf absehbare Zeit nicht abgeschoben werden kann (a). Die Interessenabwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG erweist sich im Ergebnis als zutreffend (b).
13 a) Die gegen den Kläger verfügte Ausweisung ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG. Auf den besonderen Ausweisungsschutz des § 53 Abs. 3a AufenthG kann sich der Kläger infolge des bestandskräftigen Widerrufs seiner Flüchtlingsanerkennung nicht berufen.
14 aa) Im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geht das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass eine Ausweisung auch aus rein generalpräventiven Gründen erfolgen kann (zum neuen Ausweisungsrecht vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - BVerwGE 165, 331 Rn. 17; siehe auch BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 - NVwZ 2019, 486). Daran ist auch unter Berücksichtigung der vom Kläger erhobenen Einwände festzuhalten. Die Ausweisung des wegen eines Verbrechens oder eines Vergehens verurteilten Ausländers muss nicht ausscheiden, weil kein ausreichender Anhaltspunkt dafür vorliegt, dass er sich erneut strafbar machen oder auf andere Weise die Rechtsordnung missachten würde. Sie kann zulässig sein, wenn sie nach der Lebenserfahrung dazu führen kann, dass andere Ausländer zur Vermeidung der ihnen sonst drohenden Ausweisung sich während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet ordnungsgemäß verhalten (BVerwG, Urteil vom 16. Juni 1970 - 1 C 47.69 - BVerwGE 35, 291 <293 f.>). Dass eine strafrechtliche Verurteilung wegen Drogendelikten wie illegalem Rauschgifthandel Veranlassung zur generalpräventiven Ausweisung des Ausländers geben kann, ist anerkannt (BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2013 - 1 C 13.12 - Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 13 Rn. 12 m. w. N.). Vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Falle des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, Urteil vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - BVerwGE 165, 331 LS 1 und Rn. 17 m. w. N.). Die Zulässigkeit einer generalpräventiven Ausweisung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (BVerfG, Beschlüsse vom 17. Januar 1979 - 1 BvR 241/77 - juris Rn. 43, vom 18. Juli 1979 - 1 BvR 650/77 - juris Rn. 34 und Kammerbeschluss vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 - juris Rn. 23) und entspricht dem Willen des Gesetzgebers (BT-Drs. 18/4097 S. 49).
15 Bei allein generalpräventiv begründeten Ausweisungen sind an die Annahme schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders hohe Anforderungen zu stellen. In diesen Fällen ist es erforderlich, dass die den Ausweisungsanlass bildende Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch die Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Dabei kommt es stets auf die besondere Schwere der Straftat im Einzelfall an. Dies setzt voraus, dass die konkreten Umstände der begangenen Straftat oder Straftaten, wie sie sich aus dem Strafurteil und dem vorangegangenen Strafverfahren ergeben, ermittelt und individuell gewürdigt werden. Die besondere Schwere der Straftat im Hinblick auf die verhaltenssteuernde Wirkung der Ausweisung auf andere Ausländer erfordert, dass von einer derartigen Straftat eine besonders hohe Gefahr für den Staat oder die Gesellschaft ausgeht, wie dies insbesondere bei Drogendelikten oder Straftaten aus dem Bereich der organisierten Kriminalität der Fall sein kann (BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2012 - 1 C 7.11 - BVerwGE 142, 29 Rn. 17 ff. und 24).
16 Gemessen daran hat das Oberverwaltungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise die ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG begründende Straftat des Klägers individuell, namentlich auch unter Berücksichtigung seiner Lebensumstände und seiner persönlichen Situation, berücksichtigt und dabei die konkrete Tatbegehung als besonders schwerwiegend gewürdigt (UA S. 11). Die dagegen vom Kläger erhobenen Einwände greifen nicht durch. Da bereits die Schwere der konkreten Anlasstat die besondere Gefahr begründet, von der andere Ausländer abgehalten werden sollen, kommt es auf eine individuelle Resozialisierung des ausgewiesenen Ausländers nicht an. Diese Ausweisungsinteressen können dem Kläger auch noch entgegengehalten werden. Sie sind zum einen hinreichend aktuell (vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 - BVerwGE 162, 349 Rn. 22 ff. und vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - BVerwGE 165, 331 Rn. 18 ff.), weil zum Zeitpunkt des Ergehens des Berufungsurteils die einschlägigen strafrechtlichen Verjährungs- und Tilgungsfristen noch bei Weitem nicht abgelaufen waren. Zum anderen ist das Ausweisungsinteresse nicht durch die dem Kläger von der Beklagten am 20. Juli 2020 in Kenntnis der 2019 erfolgten strafrechtlichen Verurteilung erteilte Aufenthaltserlaubnis verbraucht. Die Beklagte hat mit Schreiben vom 23. Juni 2020 den Verfahrensbevollmächtigten des Klägers darauf hingewiesen, dass sie sich ungeachtet der beabsichtigten "Verlängerung" der Aufenthaltserlaubnis die Prüfung einer Ausweisung des Klägers aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung vorbehalte, und damit die Entstehung eines schutzwürdigen Vertrauens aufseiten des Klägers verhindert.
17 bb) Auch ein Ausländer, der wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots auf absehbare Zeit nicht abgeschoben werden kann, darf aus rein generalpräventiven Gründen ausgewiesen werden. Eine Ausweisung ist grundsätzlich auf die Aufenthaltsbeendigung durch Ausreise aus dem Bundesgebiet gerichtet (vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 42 und vom 25. Mai 2023 - 1 C 6.22 - BVerwGE 179, 22 Rn. 12 ff.). Dem steht nicht entgegen, dass die zwangsweise Durchsetzung der infolge der Ausweisung begründeten Ausreisepflicht wegen des Bestehens von Abschiebungsverboten auf absehbare Zeit nicht vollzogen werden kann und die Ausweisung in diesen Fällen somit nur "inlandsbezogen" wirkt. Abschiebungsschutz aus zielstaatsbezogenen Gründen besteht indes nur, solange der ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG feststellende Verwaltungsakt Bestand hat. Entfällt das Abschiebungsverbot, kann der Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichenfalls - nach Erlass einer Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung - durch eine Abschiebung zwangsweise beendet werden.
18 Dies entspricht seit jeher dem Willen des Gesetzgebers. Er hat zuletzt mit der Änderung des § 53 Abs. 3a AufenthG durch das Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2847) der Sache nach bekräftigt, dass eine Ausweisung auch gegenüber Ausländern ergehen kann, die aus zielstaatsbezogenen Gründen aktuell nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden können. Denn das Gesetz stellt für die Ausweisung von Asylberechtigten und international Schutzberechtigten seit dieser Änderung auf die für die Nichterteilung (und damit auch die Entziehung) eines Aufenthaltstitels unionsrechtlich vorgegebene Gefahrenschwelle ab (vgl. Art. 24 Abs. 1 und 2 RL 2011/95/EU; BT-Drs. 20/3717 S. 42; sowie BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 - 1 C 3.16 - BVerwGE 157, 325 Rn. 49).
19 Eine solche Ausweisung mit (zunächst) nur inlandsbezogenen Folgen ist auch aus generalpräventiven Gründen zulässig. Das gilt unabhängig davon, ob sich die aufenthaltsrechtliche Situation des betroffenen Ausländers im Inland durch die Ausweisung wesentlich verschlechtert. Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass die mit der Ausweisung bezweckte Abschreckung anderer Ausländer gleichwohl eintreten kann, weil deren Abschiebung möglicherweise nichts entgegensteht oder ihre aufenthaltsrechtliche Lage durch eine Ausweisung unmittelbar verschlechtert wird.
20 Eine Ausweisung trotz bestehenden Abschiebungsverbots ist auch unionsrechtlich zulässig. Ihrer Rechtmäßigkeit steht nicht entgegen, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Oberverwaltungsgerichts aufgrund der Aufhebung der Abschiebungsandrohung keine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115/EG mehr vorgelegen hat. Das Nichtergehen oder die Aufhebung einer solchen Rückkehrentscheidung lässt die Rechtmäßigkeit der Ausweisung unberührt. Diese unterfällt nicht dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG, die daher auch ihre Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen nicht bestimmt. Die mit der Richtlinie 2008/115/EG geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren beziehen sich nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung. Die Richtlinie hat hingegen nicht zum Ziel, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2023 - 1 C 32.22 - NVwZ-RR 2024, 302 Rn. 22 m. w. N.). Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung hängt daher nicht davon ab, ob eine Rückkehrentscheidung besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 42).
21 Zwar ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) gemäß Art. 19 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 GRC unabhängig vom Verhalten der betreffenden Person die Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung dieser Person in einen Staat, in dem für sie die ernsthafte Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, uneingeschränkt verboten und können die Mitgliedstaaten diese Person daher nicht abschieben, ausweisen oder ausliefern, wenn für sie die reale Gefahr besteht, im Bestimmungsland einer durch diese beiden Bestimmungen der Charta verbotenen Behandlung ausgesetzt zu werden (EuGH, Urteil vom 17. Oktober 2024 - C-156/23 [ECLI:EU:C:2024:892] - Rn. 36). In einem solchen Fall folgt aus Art. 5 RL 2008/115/EG aber nur eine Pflicht für die nationale Behörde, vor der Vollstreckung einer bereits erlassenen Rückkehrentscheidung eine aktualisierte Bewertung der Gefahren für den Drittstaatsangehörigen vorzunehmen, wobei die Prüfung solcher Gründe nicht auf das Asylverfahren beschränkt ist (BVerwG, Beschluss vom 11. Dezember 2023 - 1 B 13.23 - juris Rn. 6). Soweit hiernach eine Ausweisung bei einer drohenden Verletzung von Art. 4 GRC "verboten" ist, gilt dies nur in Fällen, in denen die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung, also die Aufenthaltsbeendigung, tatsächlich droht. Bei einer Ausweisung trotz bestehenden Abschiebungsverbots ist dies - solange das Abschiebungsverbot besteht - gerade nicht der Fall. Ein solches Verständnis steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der Art. 5 RL 2008/115/EG dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, wenn feststeht, dass dessen Abschiebung in das vorgesehene Zielland nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Juli 2023 - C-663/21 [ECLI:EU:C:2023:540] - Rn. 52). Eine - lediglich den Aufenthaltsstatus verschlechternde - Ausweisung ohne Rückkehrentscheidung wird dadurch nicht ausgeschlossen.
22 Die Ausweisung, die zur Beseitigung einer etwaigen Aufenthaltserlaubnis eines drittstaatsangehörigen Ausländers führt, begründet auch keinen mit der Richtlinie 2008/115/EG unvereinbaren "Zwischenstatus". Keine Bestimmung der Richtlinie 2008/115/EG kann dahin ausgelegt werden, dass sie verlangte, dass ein Mitgliedstaat einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel gewährt, wenn gegen diesen Drittstaatsangehörigen weder eine Rückkehrentscheidung noch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ergehen kann. Art. 6 Abs. 4 RL 2008/115/EG beschränkt sich darauf, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegens eines Härtefalls oder aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage ihres nationales Rechts zu gewähren (vgl. zu Art. 6 Abs. 4 RL 2008/115/EG: EuGH, Urteil vom 22. November 2022 - C-69/21 [ECLI:EU:C:2022:913] - Rn. 85, 86; BVerwG, Urteil vom 16. November 2023 - 1 C 32.22 - NVwZ-RR 2024, 302 Rn. 23).
23 b) Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmenden Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ist das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass im Falle des Klägers das generalpräventive und gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1b AufenthG besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse gegenüber den Bleibeinteressen des § 55 AufenthG überwiegt (UA S. 13 ff.).
24 aa) Bei der Ausweisung trotz bestehenden Abschiebungsverbots sind in die Abwägung der Ausweisungs- und der Bleibeinteressen nur Beeinträchtigungen von Belangen des Ausländers im Herkunftsstaat einzustellen, die das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht erreichen, aber gleichwohl so erheblich sind, dass sie sich auf die durch Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK geschützten Belange auswirken können (vgl. näher BVerwG, Urteile vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - BVerwGE 165, 331 Rn. 28 m. w. N., vom 16. Dezember 2021 - 1 C 60.20 - Buchholz 402.261 § 6 FreizügG/EU Nr. 4 Rn. 52 und vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 35).
25 Gefahren im Herkunftsland, die diese Schwelle überschreiten, sind hingegen nicht zugunsten des Ausländers zu berücksichtigen, unabhängig davon, ob ein (der Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge unterfallendes) zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot bereits festgestellt ist oder nicht. Zu dem letztgenannten Fall hat der Senat dies bereits entschieden und zur Begründung auf die ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts verwiesen. Ist ein Abschiebungsverbot (einschließlich eines internationalen Schutzstatus) bereits festgestellt, kann aber nichts anderes gelten. Solange dieses Verbot Bestand hat, kommt eine Aufenthaltsbeendigung unter keinen Umständen in Betracht, sodass die Gefahren, vor denen dieses Verbot schützen soll, nicht tatsächlich drohen. Das Berufungsgericht hat bei der Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteressen deshalb zu Recht (fiktiv) unterstellt, dass das Abschiebungsverbot nicht mehr besteht.
26 bb) Sonstige - namentlich inlandsbezogene - Bleibeinteressen sind auch dann mit unvermindertem Gewicht zu berücksichtigen, wenn die Abschiebung des Ausländers wegen eines Abschiebungsverbots auf absehbare Zeit nicht vollzogen werden kann. Diese sind nicht Gegenstand einer gesonderten und isolierten Feststellung von Abschiebungsverboten, sondern sollen gerade im Rahmen des § 53 Abs. 1 AufenthG mit dem Ausreiseinteresse abgewogen werden. Damit wird auch gewährleistet, dass bei späterem Wegfall des Abschiebungsverbots eine Abschiebung erfolgen kann, ohne dass das Verfahren über die Ausweisung allein deshalb wiederaufgegriffen werden müsste, weil die Bleibeinteressen in der Abwägung nicht hinreichend gewichtet worden sind. Soweit der Senat die Auffassung vertreten hat, bei Vorliegen eines Abschiebungsverbots sei den Bleibeinteressen ein geringeres Gewicht beizumessen (BVerwG, Urteile vom 9. Mai 2019 - 1 C 21.18 - BVerwGE 165, 331 Rn. 28 und vom 16. November 2023 - 1 C 32.22 - NVwZ-RR 2024, 302 Rn. 20), hält er daran nicht mehr fest.
27 Dem entsprechend hat das Oberverwaltungsgericht die Situation des Klägers bei einer Rückkehr in den Iran vollumfänglich berücksichtigt und dabei unterstellt, dass ihm trotz des durch das Bundesamt festgestellten Abschiebungsverbots in den Iran dort keine Folter beziehungsweise unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Dabei geht es von einer hypothetischen Rückkehr aus, lässt dabei aber drohende Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung außer Betracht und kommt beanstandungsfrei zu dem Ergebnis, dass die Ausweisungsinteressen überwiegen und sich die Ausweisung auch im Hinblick auf das Privatleben des Klägers (Art. 8 Abs. 1 EMRK) und seine sonstigen - rechtsfehlerfrei festgestellten - Bleibeinteressen als verhältnismäßig erweist (UA S. 13 ff.). Lediglich alternativ hat es - entgegen dem oben dargelegten Maßstab - unterstellt, dass eine Abschiebung auf absehbare Zeit nicht droht und deshalb nur auf die Verschlechterung seiner Rechtsstellung in Deutschland abzustellen ist.
28 2. Im Einklang mit Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht das gegen den Kläger erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot für rechtswidrig erachtet (a). Es kann nach der geltenden Rechtslage keine isolierte Titelerteilungssperre begründen (b).
29 a) Unter Geltung der Richtlinie 2008/115/EG gibt es keinen Raum für ein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot ohne Rückkehrentscheidung.
30 aa) Gegen illegal aufhältige Drittstaatsangehörige haben die Mitgliedstaaten grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung zu erlassen (Art. 6 Abs. 1 RL 2008/115/EG). Nach Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 RL 2008/115/EG hat das Einreise- und Aufenthaltsverbot zwingend mit einer Rückkehrentscheidung einherzugehen (BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 53). Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das unter die Rückführungsrichtlinie fällt, kann seine individuelle Rechtswirkung zwar erst nach der - freiwilligen oder zwangsweisen - Vollstreckung der Rückkehrentscheidung entfalten, doch kann es nach Aufhebung der Rückkehrentscheidung nicht aufrechterhalten werden (EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 - C-546/19 [ECLI:EU:C:2021:432] - Rn. 54; BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 - BVerwGE 175, 16 Rn. 52 f.). Da die Abschiebungsandrohung (als Rückkehrentscheidung) vorliegend durch die Vorinstanzen rechtskräftig aufgehoben wurde, fehlt es an der unionsrechtlich erforderlichen Grundlage für den Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots.
31 Einreise- und Aufenthaltsverbote, die - wie das hier in Rede stehende - vor Inkrafttreten des mit dem Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl. I Nr. 54) ausgeübten Opt-outs ergangen sind, unterfallen der Rückführungsrichtlinie. Der Gesetzgeber hat mit dem Rückführungsverbesserungsgesetz zwar von seinem nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG bestehenden Recht Gebrauch gemacht, die Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist (vgl. BT-Drs. 20/9463 S. 45). Ein Mitgliedstaat, der erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist von der Möglichkeit des Opt-outs Gebrauch macht, kann sich aber nicht auf den Ausschluss der Anwendung der Richtlinie gegenüber Personen berufen, hinsichtlich derer der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie bereits eröffnet war, sofern die Nichtanwendung der betreffenden Richtlinienbestimmung eine Verschlechterung ihrer Rechtsstellung zur Folge hätte (EuGH, Urteil vom 19. September 2013 - C-297/12 [ECLI:EU:C:2013:569], Filev und Osmani - Rn. 53 ff.; daran anknüpfend ebenso VGH Kassel, Beschluss vom 18. März 2024 - 3 B 1784/23 - juris Rn. 18 f.; OVG Lüneburg, Urteil vom 6. März 2024 - 13 LC 116/23 - juris Rn. 104; Lutz, in: Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Edit. 2022, RL 2008/115/EG Art. 2 Rn. 7).
32 Hat ein Opt-out also grundsätzlich keine Rückwirkung, kann es wegen der negativen Auswirkungen des Erlasses einer Abschiebungsandrohung außerhalb der Geltung der Rückführungsrichtlinie für den Kläger diesem nicht entgegengehalten werden. Die im Ergänzungsbescheid vom 20. Oktober 2022 erlassene Abschiebungsandrohung und das Berufungsurteil sind vor Inkrafttreten des Rückführungsverbesserungsgesetzes am 27. Februar 2024 ergangen.
33 bb) Unter Geltung der Rückführungsrichtlinie besteht für ein rein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot auf der Grundlage von § 11 AufenthG kein Raum. Da nach § 11 Abs. 1 AufenthG das Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen ist, wenn der Ausländer ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, gegen ihn eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erlassen wurde oder er aus bestimmten Gründen (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) zurückgewiesen worden ist, kann es im Falle der Ausweisung außerhalb der Geltung der Rückführungsrichtlinie, also rein nach nationalem Recht, zwar auch ohne Abschiebungsandrohung ergehen. Im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie ist dies indes nicht möglich. Nach Art. 2 Abs. 1 RL 2008/115/EG findet die Richtlinie insbesondere (auch) Anwendung auf ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen verhängt wurde, gegen den aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf der Grundlage einer früheren strafrechtlichen Verurteilung eine Ausweisungsverfügung ergangen ist, soweit der Mitgliedstaat nicht von der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG geregelten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, die Richtlinie nicht auf einen aufgrund oder infolge strafrechtlicher Sanktion rückkehrpflichtigen Drittstaatsangehörigen anzuwenden (EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 - C-546/19 - Rn. 48). Die Richtlinie stellt allein auf die Illegalität des Aufenthalts ab und differenziert nicht zwischen migrations- und gefahrenabwehrrechtlich bedingten Einreise- und Aufenthaltsverboten, sondern erfasst beide.
34 b) Das hier angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot kann nach der geltenden Rechtslage auch nicht als isolierte Titelerteilungssperre gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aufrechterhalten bleiben. Erweist sich das gegen den Kläger verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot nach obigen Ausführungen als rechtswidrig und ist aufzuheben, besteht für eine isolierte Titelerteilungssperre - ungeachtet der Frage, ob die Beklagte eine solche überhaupt verfügt hat - nach derzeitiger Rechtslage keine Rechtsgrundlage.
35 Nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ("Infolge") ist eine Titelerteilungssperre nur als Bestandteil eines Einreise- und Aufenthaltsverbots vorgesehen; die Titelerteilungssperre ist die - durch die Konjunktionen "weder [...] noch [...] noch" mit dem Verbot der Einreise und des Aufenthalts verbundene gleichwertige - Rechtsfolge eines Einreise- und Aufenthaltsverbots (ausführlich OVG Lüneburg, Urteil vom 6. März 2024 - 13 LC 116/23 - juris Rn. 108). Aus binnensystematischer Sicht sind Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots einheitlich in Absatz 1 geregelt, während die weiteren Absätze seine Modalitäten wie die Befristung, Zuständigkeit und den Erlass regeln. Dieses Verständnis wird durch die Entstehungsgeschichte untermauert: So wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot in der Fassung des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung ab 1. August 2015, ausgedrückt durch den Klammerzusatz am Ende des § 11 Abs. 1 AufenthG a. F. legal definiert und umfasste bereits hiernach ausdrücklich auch das Titelerteilungsverbot. Dies bestätigte die Gesetzesbegründung, nach der die Sperre aus § 11 AufenthG - wie bisher - zugleich als Einreise-, Aufenthalts- und Titelerteilungsverbot ausgestaltet ist (BT-Drs. 18/4097 S. 35). Die Umformulierung des § 11 Abs. 1 AufenthG und Aufteilung auf zwei Sätze in der aktuellen Normfassung hat in der Sache nichts daran geändert, dass das Titelerteilungsverbot lediglich ein Bestandteil bzw. eine Rechtsfolge des Verwaltungsakts Einreise- und Aufenthaltsverbot ist, aber nicht isoliert erlassen werden kann. Dem Vorschlag des Bundesrates zur Einführung einer isolierten Titelerteilungssperre im Rückführungsverbesserungsgesetz (BT-Drs. 20/9642 S. 1 f.) ist der Gesetzgeber nicht gefolgt.
36 3. Die vom Oberverwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung des Antrages des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht ebenfalls im Einklang mit Bundesrecht. Nach den obigen Ausführungen (unter 2.) scheitert dieses Begehren entgegen der Auffassung der Beklagten nicht bereits an der Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG.
37 Der Kläger hat zwar keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, weil er wegen der verwirklichten Straftat von erheblicher Bedeutung den Ausschlussgrund des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG erfüllt, ohne dass es auf eine gegenwärtige Wiederholungsgefahr für eine Straftat von erheblicher Bedeutung ankommt (BVerwG, Beschluss vom 22. Januar 2024 - 1 C 15.23 - InfAuslR 2024, 367 <368>). Der Ausschlussgrund ist nicht gefahren- oder präventionsabhängig, sondern als dauerhaft wirkender Ausschlusstatbestand konzipiert. Im Anschluss an Art. 17 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU bezeichnet er Fälle, in denen der Ausländer einer Aufenthaltsgewährung als unwürdig erachtet wird. Diese aus der Begehung einer schweren Straftat folgende "Unwürdigkeit", einen qualifizierten Aufenthaltstitel zu erlangen, besteht auch dann fort, wenn keine Wiederholungsgefahr (mehr) besteht und von dem Ausländer auch sonst keine aktuellen Gefahren für den Aufenthaltsstaat ausgehen (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 16.14 - Buchholz 402.242 § 25 AufenthG Nr. 22 Rn. 29 m. w. N.).
38 Einen Anspruch des Klägers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nach § 25 Abs. 5 AufenthG hat das Oberverwaltungsgericht zutreffend bejaht. Ein solcher Anspruch ist von seinem Antrag erfasst, weil das Begehren allgemein auf die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels nach allen in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen gerichtet ist (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192 Rn. 11). Das Vorliegen des Ausschlussgrundes des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG schließt einen Anspruch nach Absatz 5 nicht aus und dessen tatbestandliche Voraussetzungen liegen vor. Der Kläger ist vollziehbar ausreisepflichtig und ihm ist die Ausreise in seinen Heimatstaat Iran wegen des vom Bundesamt festgestellten Abschiebungsverbots, das nach der Rechtsprechung des Senats auch im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen ist (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192 Rn. 17), aus rechtlichen Gründen unmöglich. Mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 (kein Ausweisungsinteresse) und Nr. 4 (Passpflicht) AufenthG sind indessen nicht erfüllt. Da der (Regel-)Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach obigen Ausführungen ausgeschlossen ist, verbleibt es bei einem (in den übrigen Fällen der Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels, hier nach § 25 Abs. 5 AufenthG bestehenden) Ermessensanspruch nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auf Absehen von den Erteilungsvoraussetzungen des Absatzes 1. Auch wenn zur Vermeidung einer Umgehung der gesetzgeberischen Wertung in § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG bei Eröffnung der Möglichkeit eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bei Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nur ausnahmsweise - etwa bei Straffreiheit und sehr guten Integrationsleistungen über einen längeren Zeitraum - in Betracht kommt, hat die Beklagte derartige Ermessenserwägungen bisher nicht angestellt.
39 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO.